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"Wir spielten
und spielten,
und spielten"

Astrid Lindgren

JANA WELLMANN Salon Alba - JANUAR 2021

Astrid Lindgren: Influencerin unserer Kindheit 

Arid Lindgrens großes Lebensthema war immer die Kindheit und diese hat sie mit ihren Figuren und Büchern geprägt. Ob wir wohl die Gleichen wären, wenn wir ohne Pippi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter aufgewachsen wären. Diese Mädchen inspirierten uns, stellten unsere Welt auf den Kopf, ließen uns erfinderisch und neugierig werden. Am 28. Januar 2002 ist sie in Stockholm gestorben, Grund genug um uns an die bescheidene Ausnahmefrau zu erinnern. 

Astrid Lindgren war ihrer Zeit immer ein Stückchen voraus, wie keine andere innovierte sie die Kinderliteratur.  Im Oktober 1978 wurde ihr als erste Kinderbuchautorin der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Ihr Werk, so hieß es in der Laudatio, beflügelte die Fantasie der Kinder. Weniger beflügelt waren die Preisverleiher von Astrids provokanter Dankesrede: ein Plädoyer zur gewaltfreien Erziehung. Diese erschien den Veranstaltern zu jener Zeit so unpassend, dass sie die Autorin beinahe wieder ausgeladen hätten. ​Doch Astrid Lindgren war in den 70er Jahren in Schweden längst respektierte Meinungsgeberin geworden. Sie hatte Einfluss auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen. Ja, Astrid brachte das Publikum mit ihrem Manifest in der Paulskirche in Verlegenheit, denn in Deutschland bestand noch das Recht der Eltern auf häusliche Züchtigung. Kinder durften von Eltern geschlagen werden. 

 

 

 

Wenn einer Autorin der Friedenspreis des Buchhandels verliehen wird, ist es nicht verwunderlich, dass sie in ihrer Rede zum Kern ihrer Arbeit zurückkehrt. Wo endet Gewalt und beginnt Frieden? Für Astrid Lindgren ohne jeden Zweifel bei den Kindern. Würden Erwachsene ihre Kinder mit Liebe behandeln, anstatt ihren Willen mit Gewalt zu brechen, dann bestehe Hoffnung, dass die Menschheit in Frieden leben könne. Wie einleuchtend klingt da ihr Statement „Man kann in Kinder nichts hinein prügeln, aber man kann vieles aus ihnen heraus streicheln."

 

​Sie sprach in der typischen Lindgren Manier: Bringe das Wesentliche mit Bildern auf den Punkt. So erzählte sie die Geschichte einer Mutter und ihrem Sohn. Als der kleiner Junge eines Tages etwas angestellt hatte, wofür er eine Tracht Prügel verdient hätte, schickte sie ihn in den Garten, um eine Rute zu suchen. Der Junge blieb lange Zeit fort. Schließlich kam er weinend in die Küche zurück: „Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.“ Da fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. 

​Das war auch Astrids große Gabe, die Welt mit den Augen der Kinder zu sehen- ihre Neugier, ihr Stauen, ihre Ängste.

Wenn ich Astrid Lindgrens Bücher heute als Erwachsene lese, so scheint es mir, als wäre sie selbst die ganze Zeit irgendwo versteckt dabei. Als würde sie ins Küchenfenster der Villa Kunterbunt sehen oder Ronja bei der Flucht in den Wäldern beistehen. Sie schrieb immer so, wie sie sich selbst als Kind das Buch gewünscht hatte. Sie schrieb für das Kind in sich.

​Wie schafft man das? Wie wird man zu einer Art Nationalheiligen Schwedens, die sich für Kinderrechte und Tierrechte einsetzt und jeden Fanbrief persönlich beantwortet. Die zum Geburtstag ein nach ihr benanntes Tierschutzgesetz geschenkt bekommt und ganze Kindergenerationen mit ihren Geschichten prägt?

 

Geborgenheit und Freiheit

Beginnen wir 1907 als alles seinen Anfang nahm, im südschwedischen Småland nahe der Kleinstadt Vimmerby. Astrid nannte es ihr „Kindheitsland“ mit seinen Kindheitsdüften:  den Sommerduft, wenn die Sonne auf das Leder schien und den Winterduft, der mit dem Schneekam.

In der dörflichen Idylle des ehemaligen Pfarrhofs in Nas verlebte Astrid Ericson mit ihren drei Geschwistern eine harmonische Kindheit. Zwei Dinge hatten sie, die ihre Kindheit zu dem machten, was sie war: Geborgenheit und Freiheit. 

Von den Eltern wurden sie geliebt, im Spiel waren sie frei und unbeschwert. Ihr Spielplatz war die Natur Südschwedens, immer begleitet von den Jahreszeiten und Festen. Wenn Astrid an Kindheit denkt, dann an die Natur. Ihr Leben war darin eingebettet und nährte ihre Spiele und Träume. Wir kennen diese wohlig-warme Stimmung von den Kindern aus Bullerbü oder Michel aus Lönneberga. Ihre Kindheit glich einem „glückseligen Zustand“. Diese intensiven Kindheitserfahrungen machen die Bücher zu dem was sie heute sind. Doch Freiheit und Geborgenheit, das sind auch Widersprüche, wie sich für Astrid später zeigen sollte.

Die verlorene Kindheit

Mit 13 merkte Astrid in einem Art Schockzustand gefolgt von Traurigkeit, dass sie nicht mehr spielen konnte. Später ließ sie Pippi Langstrumpf für sich sprechen: „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“ Genauso wie Pippi, Annika und Tommy hätte vielleicht auch Astrid gerne die Pillen gegen das Erwachsenwerden geschluckt. ​ 

Ihre Teenagerjahre beschrieb sie als ton- und leblosen Zustand. Oft war sie melancholisch und fand sich hässlich. Mit 17 Jahren begann sie als Volontärin bei der Ortszeitung in Vimmerby. Astrid wollte Journalistin werden und es war der Beginn der goldenen 20er. Genauso wie in Berlin, wurde Schweden offen für Demokratisierungsprozesse und künstlerische Experimente. Das Frauenwahlrecht wurde in beiden Ländern eingeführt. Astrid liebte den Jazz, das Kino und den Charleston. Die „neue Frau“ der Sachlichkeit, der androgyne Kleidungsstil imponierten ihr. Oft trug sie Schlips, Anzug, Hut und zum Leidwesen der Mutter einen Bubikopf. Ein Zeichen ihrer inneren Revolte, die ihr ganzes Leben lang anhalten sollte. Es war vielleicht auch mehr Revolte als Verliebtheit, als sie eine Affäre mit ihrem 30 Jahre älteren Chefredakteur Reinhold Bloom begann. Astrid wurde von ihm schwanger. Im dörflich-religiösen Milieu war ein uneheliches Kind eine Schande und Astrid traf eine folgenschwere Entscheidung. Sie verließ den elterlichen Hof und ging alleine und schwanger nach Stockholm.

 

Ihre Beweggründe waren vielfältig. Zum einen aus Angst ihr Kind wegen eines damals geltenden schwedischen Gesetzes an den Staat zu verlieren. Zum Anderen zum Schutz des Vaters, der sich inmitten eines Scheidungskrieges vor dem Gesetz strafbar gemacht hätte. Aber sicherlich auch, um der Enge des kleinbürgerlichen Dorfes zu entkommen. In Stockholm musste sie auf eigenen Beinen stehen und begann eine Ausbildung als Stenotypistin. Sie nahm Kontakt zur Frauenrechtlerin Eva Anden auf, die sich für alleinstehende Mütter einsetzte. Schließlich gebar sie mit 18 Jahren ihren Sohn Lars in Dänemark - heimlich und anonym. Sie gab ihn in die Obhut von Pflegeeltern, so lange bis Bloom offiziell geschieden war und das Kind anerkennen konnte. Verzweifelt und innerlich zerrissen verließ die 18 jährige zwei Tage vor Weihnachten ihren neugeborenen Sohn im Haus der Pflegeeltern und kehrte nach Småland zurück. Astrid litt. Sie vermisste ihren Sohn, war geschwächt von der Geburt, hatte schlimme Schmerzen und die Scheidung der Eheleute Bloom war immer noch nicht über den Tisch.

Schließlich traf sie eine zweite lebenswichtige Entscheidung. Sie sagte nein zu einer Hochzeit mit Bloom, denn sie liebte ihn nicht. Zu lange wurde sie hingehalten und mit ihrem Schmerz alleine gelassen. Immer noch alleine kehrte sie zurück nach Stockholm. Schwere Schuldgefühle plagten sie, hin– und hergerissen zwischen der freien Metropole Stockholm und ihrem Sohn Lars, für dessen Lebensumstände sie ihr eigenes Versagen verantwortlich machte. Ihre düstere Veranlagung zu Traurigkeit und Melancholie verstärkten sich in dieser Zeit sehr und sollten nie wieder ganz verschwinden. 1970 sprach sie das erste Mal über diese Erlebnisse. Ihre quälenden Schuldkomplexe verarbeitete sie in ihrer Literatur. „Ich habe oft in traurigen Momenten meines Lebens zu schreiben begonnen“, gab Astrid Lindgren einmal zu. Im poetischen Roman „Mio mein Mio“ (dt. 1955) ist dieser traurige Moment verschriftlicht. Die Handlung beginnt im Stockholmer Vasa Viertel, Astrids Viertel. Der vernachlässigte Waisenjunge Bo gelangt mit Hilfe eines Flaschengeistes ins Land der Ferne, wo er seinen liebenden Vater findet, über sich hinauswächst und das Böse besiegt. Eine Geschichte, die sie im Dialog mit ihrem eigenen trostsuchenden Kind schrieb. „Mio, mein Mio“ stellt kinderliteraturhistorisch den Beginn des Phantasieromans dar und persönlich die Verarbeitung von Leid.

Empowering Women

​Astrids leidvolle Emanzipation in Stockholm und die Erschaffung ihrer Identität haben auch etwas sehr kraftvolles und erinnern mich an „Ronja Räubertochter“ (dt. 1981). Ein mutiges Mädchen, das sich mit ihrem Freund Birk über die Konventionen ihrer verfeindeten Eltern hinwegsetzt. Auch hier entdecke ich Astrid. Sie flüchtete Anfang der 20er Jahre mit ihrem ungeborenen Sohn aus dem familiären Umfeld und entscheidet sich gegen die Ehe. In Ronja Räubertochter erkennen die Familien irgendwann, worauf es im Leben wirklich ankommt. Nicht um Ehre und Konventionen, sondern um Liebe und menschliche Nähe.

 

 

 

Ihre Erfahrungen setzte sie in Taten um. 1952 hatte sie eine eigene Radiosendung, in der sie Interviews mit unverheirateten Müttern führte und ihre Situation zum Thema machte. 1992 sagte sie in einem Interview: "Ich habe mich immer darüber geärgert, wie man Frauen behandelt. Oft hatte man das Gefühl, es gäbe nur ein Geschlecht, die Männer." Der bürgerlichen Ehe stand sie realistisch gegenüber. Ihr war klar, dass die Ehe einer Frau keinesfalls einen permanenten Glückszustand herbei zaubern würde.  Sie empfand es als ungerecht, dass „die Kronen der Schöpfung darüber entschieden, ob das Leben des jungen Mädchens eine glühende Hölle oder ein Jubellied oder vielleicht nur allgemein etwas trübselig sein soll.“ Die empfundene Ungerechtigkeit drückt sie selbst in den Bullerbü- Büchern für die Zielgruppe der jungen Leser aus. Die siebenjährige Lotta beklagt sich „Was man auch spielt, für die Jungen kommt immer etwas Lustiges dabei heraus, wir aber, wir sollen nur immer Essen warm halten oder so etwas.“ 

Und Recht hat Astrid! So war und ist ihre Botschaft an die Mädchen heute noch genauso aktuell wie damals: „Es ist nicht das Wichtigste, von Jungen gemocht zu werden und für sie hübsch zu sein. (…) Denn wenn man zu sehr von seinem Hübschsein in Anspruch genommen wird, dann hat man ja gar keine Zeit mehr, klug zu werden.”

Die Geburtsstunde Pippis

​Astrid heiratete 1931 ihren Mann Sture und holte ihren dreijährigen Sohn Lars nun ganz zu sich. Die Lindgrens bekamen drei Jahre später ein Mädchen mit dem Namen Karin. Der 2. Weltkrieg begann, über den Astrid von Tag eins an Kriegstagebücher schrieb. Die Diktatoren Hitler und Stalin, sowie ihre politischen Ideologien verabscheute sie. Sie selbst lebte im neutralen Schweden, welches sich nicht am Krieg beteiligte. Durch das Tagebuchschreiben versuchte sie das Kriegsgeschehen zu begreifen. 1940 trat Astrid eine streng geheime Stelle beim schwedischen Geheimdienst Abteilung Briefzensur an. Sie las von Einzelschicksalen, Verbrechen, Abtransporten, Hungersnöten und Sterben.

In dieser Zeit des Krieges entstand Pippi Langstrumpf. Es begann als Gutenachtgeschichte für ihre Tochter. Schließlich schrieb Astrid Lindgren die Geschichte 1944 zum Geburtstag ihrer Tochter auf Papier. Vor dem Hintergrund des Krieges erscheint Pippi Langstrumpf in einem anderen Licht. Astrid nahm ein Kind und gab ihm Macht und Omnipotenz. Das gab es davor nicht. Eine Figur, die Widerstand gegen Diktatur und Gewalt symbolisiert und für Freiheit und Selbstbestimmtheit steht. Sie ist nicht nur das stärkste Mädchen der Welt, sondern auch finanziell unabhängig - ohne elterliche Autorität, ohne Not. Sie zweifelt Autoritäten an und fordert eigene Rechte und Freiräume ein. So legt sie sich mit Polizisten, dem Schulbetrieb, dem Jugendamt, mit Dieben, die ihr Geld stehlen möchten und dem starken Adolf an. Aber sie setzt ihre Kräfte stets klug ein, in bester Absicht und wenn es nur darum geht, den Erwachsenen ihre eigene Einfältigkeit vorzuführen. Mit der Figur Pippi Langstrumpf veränderte Astrid Lindgren die Welt und setzte einen Meilenstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur. „Wenn Pippi übrigens jemals eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die zu zeigen, dass man Macht haben kann und sie nicht missbraucht.“

Astrid hörte nie auf, sich für ihre Herzensangelegenheiten einzusetzen, für die Kinder, für Tiere, für die Natur und für den Frieden. Und warum tat sie das? Vielleicht weil sie das eigene Kindheitsglück und die Sehnsucht danach nie ablegte. Vielleicht aber auch, weil sie einen inneren Drang danach verspürte etwas zu tun. So wie die Brüder Löwenherz, die gemeinsam mutig gegen den Tyrann Tengil und für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Und obwohl dies ein bedrohliches Unterfangen war, wussten die Brüder: Es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck“.

E. Hohmeister, A. Kutsch, M. Strömstedt (2000): Astrid Lindgren. Steine auf dem Küchenbord. Gedanken Erinnerungen Einfälle, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg.

Dankert, Birgit  (2013): Astrid Lindgren: Eine lebenslange Kindheit. Lampert Schneider Verlag, Darmstadt.

Astrid Lindgren et al. (2020): Pippi Landgstrumpf. Heldin, Ikone, Freundin. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg.

Astrid Lindgren (2017): Niemals Gewalt! Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg.

Hrsg: J. Andersen, J. Glargaad (2016): Astrid Lindgren und louise Hartun. Ich habe auch gelebt. Briefe einer Freundschaft. Ullstein Buchverlag. Berlin.

Astrid Lindgren (2015): Die Menscheit hat den Verstand verloren. Tagebüchern1939 - 1945. Ullstein Buchverlag. Berlin.

"Ich habe oft in traurigen Momenten meines Lebens zu schreiben begonnen."

"Ich habe mich immer darüber geärgert, wie man Frauen behandelt."

"Man kann in Kinder nichts hinein prügeln, aber man kann eine Menge hinaus streicheln."

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